Informationen für Ärzt*innen
Besonderheiten in der Behandlung und Nachsorge erworbener Hirnschädigungen
Die erkannten Fälle von Menschen mit erworbener Hirnschädigung (MeH) wachsen kontinuierlich durch eine bessere Diagnostik sowie den technischen und medizinischen Fortschritt und natürlich durch den demographischen Wandel. Bei den Betroffenen sind die Arbeitsunfähigkeitszeiten besonders lang, kostenintensiv und führen häufig zu einer Erwerbsminderung oder Frühberentung.
In der Nachsorge von MeH nehmen Hausärzt*innen und niedergelassene Neurolog*innen eine zentrale Unterstützungs- und Koordinationsrolle ein. Ein Netzwerk ambulanter Weiterbehandler*innen soll notwendige Informationen liefern und damit Therapieerfolge der Rehabilitationskliniken stabilisieren oder ausbauen. Das individuelle Lebensumfeld, die Persönlichkeit, die Lebensgeschichte und die beruflichen Anforderungen haben Einfluss auf die Folgen der Erkrankung, auf den Verlauf der Genesung und auf die Reintegration und Teilhabemöglichkeiten des oder der Betroffenen.
In vielen Fällen ist nach der Entlassung aus dem Krankenhaus oder der stationären Rehaklinik noch Potential für Verbesserungen. Manchmal wird auch erst zu Hause deutlich, wie groß das Handicap ist. Es können Schwierigkeiten bei der Reintegration in den häuslichen Alltag, in zwischenmenschlichen Situationen oder bei der Wiedereingliederung in den Beruf oder in die Schule entstehen.
Die Folgen einer Hirnschädigung für das Leben können nur im Kontext der individuellen Biografie, der Persönlichkeit und in der sozialen und beruflichen Lebenssituation beurteilt werden. Behandlungsbedarf in der Nachsorge besteht dann, wenn alltagsrelevante Beeinträchtigungen wie senso-motorische, kognitive, sprachliche, emotionale Beeinträchtigungen oder eine psycho-physiologische Minderbelastbarkeit (schnelle, übermäßige, ungewöhnlich intensive Erschöpfung und Ermüdung) weiterbestehen.
Folgen einer fehlenden oder verzögerten Weiterbehandlung sind u.a.:
- Verschlimmerung der Situation durch reaktive psychische Störungen.
- Verlust der Nachhaltigkeit der Erfolge aus der stationären und teilstationären Rehabilitation.
- hoher finanzieller und zeitlicher Aufwand durch verspätete medizinische und therapeutische Maßnahmen.
- unzureichende oder misslungene Reintegration.
Neurologische Erkrankungen des Gehirns sind häufig komplex und vielschichtig. In der stationären Neuro-Rehabilitation, fernab der individuellen Rahmenbedingungen des oder der Betroffenen, ist der Bedarf an häuslichen medizinischen und pflegerischen Notwendigkeiten schwer beurteilbar, so dass eher standardisierte Empfehlungen bei der Entlassung erfolgen. Daraus ergeben sich mitunter negative Entwicklungen:
- oft fällt die Prognose der Teilhabefähigkeit zu optimistisch aus.
- sehr häufig werden Minderbelastbarkeit, neuropsychologische Einschränkungen und Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen unterschätzt.
Eine realistische Einschätzung gelingt meist erst mit dem Eintreten der komplexen Anforderungen zu Hause, mit Aufgaben auf hohem Niveau und mit dem nicht zu unterschätzenden Zeitfaktor.
Indikation und Ablauf einer ambulanten neuropsychologischen Therapie
In folgenden Fällen ist die Empfehlung einer ambulanten krankheitsspezifischen, neuropsychologischen Untersuchung und ggf. einer neuropsychologischen Therapie indiziert (Schock et al. 2018):
- gesicherte Diagnose einer Hirnschädigung oder Verdacht einer erworbenen Hirnschädigung, z.B. nach Gehirnerschütterung, auch wenn noch keine sichere medizinische Diagnose gestellt wurde.
- bei Verdacht auf kognitive Einschränkungen.
- bei Minderbelastbarkeit und schneller Erschöpfung.
- bei Verhaltensauffälligkeiten und / oder emotionalen Problemen.
- zur Vorbereitung und Begleitung der stufenweisen beruflichen Wiedereingliederung.
Eine ambulante neuropsychologische Untersuchung und Therapie kann durch die behandelnden Ärzt*innen empfohlen werden. Der oder die Betroffene können aber auch ohne Überweisung Kontakt aufnehmen; zugelassene ambulante Neuropsycholg*innen haben Facharztstatus.
Rahmenbedingungen der ambulanten neuropsychologischen Behandlung
- Bis zu fünf probatorischen Sitzungen vor Behandlungsbeginn zur Klärung von Therapieindikationen, Zielen, Behandlungsplanung und Motivation sind möglich.
- Dauer einer neuropsychologischen Therapie: je nach Art und Schwere der Erkrankung werden von den Kostenträgern bis zu 60 Sitzungen à 50 Minuten erstattet.
- Die Therapie ist in Einzel- oder Gruppensitzungen durchführbar.
- Die Einbeziehung von Bezugspersonen ist immer fakultativer Leistungsinhalt.
Behandlungsmaßnahmen
- Therapieziel Restitution
Die durch die Hirnverletzung eingeschränkten kognitiven Funktionen werden trainiert, um eine Verbesserung zu erreichen. Das kann unter anderem durch ein spezifisches Training am PC erfolgen, z.B. bei Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen. - Therapieziel Kompensation
Gelingt die Restitution nicht vollständig, dann ist der oder die Betroffene darauf angewiesen, Kompensationsstrategien zu erlernen, die ihm oder ihr helfen, die Beeinträchtigung im Alltag besser zu bewältigen. Hierzu gehören die Verwendung eines „Gedächtnisbuches“, Mnemotechniken, Kommunikationshilfen oder tagesstrukturierende Maßnahmen. - Therapieziel Integration
Häufig treten psychische Probleme auf, die zum einen auf die hirnorganische Veränderung selbst, zum anderen auf Schwierigkeiten im Umgang mit der neuen Lebenssituation zurückzuführen sind. Die Förderung von Krankheitsverarbeitung oder die Unterstützung durch konkrete, individualisierte (verhaltens-)therapeutische Strategien dienen der Neuorientierung und Adaptation an die veränderte Lebenssituation.
Eine enge, vertrauensvolle Kooperation mit der überweisenden Klinik, den behandelnden Haus- und Fachärzt*innen sowie den mitbehandelnden Therapeut*innen (Physio- und Ergotherapie, Logopädie, amb. Soziotherapie) ist sinnvoll und häufig Inhalt der Behandlung (Schock et al. 2018, Bauer et al. 2007)